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Kurzkrimis
Mord im Weihnachtsexpress
Als der Zug einfuhr, hatte sich schon eine dünne Schneedecke auf dem Bahnsteig gebildet, und auch das Gepäck der alten Dame war weiß bedeckt. Erna Mühlmann stand mitten auf dem Freiburger Hauptbahnhof und sah sich nach Hilfe um für ihre zahlreichen Taschen und Päckchen und den Koffer, doch so früh am Morgen hatten es alle eilig; niemand beachtete die dünne kleine Frau mit dem altmodischen Schirm und dem langen Mantel. Erst als sie den Schaffner abpasste, konnte ihr geholfen werden; er stellte ihre Sachen eilig in ein kleines Abteil und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Sein sorgenvoller Gesichtsausdruck und die nervösen Bewegungen ließen keine freundliche vorweihnachtliche Stimmung aufkommen. Sie setzte sich ans Fenster, legte sich das Strickzeug und die Zeitung zurecht, klopfte den Schnee vom Mantel und entspannte sich allmählich. Nein, diese seltene Reise wollte sie sich nicht so schnell verderben lassen. Am Abend würde sie bei ihrem Sohn und dessen Familie in Wien sein, den Weihnachtsbaum bewundern und sich verwöhnen lassen ... Sie schreckte etwas aus ihren Gedanken auf, als ein dicklicher Mann mit beschlagenen Brillengläsern keuchend das Abteil betrat. Er sah sich um und schwitzte trotz der winterlichen Temperatur, was ihr sofort auffiel. Hastig verstaute er sein Gepäck, hängte seinen Mantel auf und nahm ihr gegenüber Platz. Sie setzte freundlich lächelnd ihre Nickelbrille auf und sah ihn an, doch er wandte den Blick ab und starrte aus dem Fenster. Auch als der Zug sich schon in Bewegung gesetzt hatte und sie ihm von ihren Lebkuchen anbot, taute er nicht auf. So griff sie denn bekümmert zur Zeitung - sollte die ganze Zugfahrt in dieser düsteren Schweigsamkeit weitergehen? Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte Erna Mühlmann an jenem frühen Wintermorgen nicht noch ihre Zeitung eingepackt. Doch so fiel ihr Blick auf die Schlagzeile, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und während sie las, konnte sie das Zittern ihrer Hände kaum noch unterdrücken: "Bahnmörder noch immer nicht gefasst! Polizei vergeblich auf der Suche nach dem Täter - Opfer meist alleinreisende ältere Damen - Vorfälle immer auf der Strecke "Freiburg-Basel-Zürich-Wien". Sie schluckte und faltete das Blatt zusammen. Ihr Blick fiel auf ihr Gegenüber. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Abteil und ein elegant gekleideter Herr trat ein, fragte höflich, ob noch frei sei und setzte sich dann dankbar lächelnd neben Erna Mühlmann. Er trug einen hellen Anzug; Hut und Mantel verstaute er sorgfältig, nahm dann ein kleines Taschenbuch aus seinem Aktenköfferchen, strich mit seinen weißen Lederhandschuhen die Seiten glatt und begann zu Iesen. Nach und nach beruhigte sich die alte Dame. Nun konnte ja nichts mehr passieren. Denn die Opfer in der Zeitung waren offensichtlich immer allein gewesen in ihrem Zugabteil. Frau Mühlmann war an sich kein ängstlicher Typ, nein, wenn es um kleine kriminalistische 'Unebenheiten' ging, so unterstützte sie zu Hause in ihrer Kleinstadt gern die polizeilichen Aktivitäten, ob das nun erwünscht war oder nicht. Sie hatten bereits den Basler Bahnhof hinter sich gebracht, als noch ein Fahrgast dazukam. Er riss die Tür auf, setzte sich in die Ecke und schien sich um das Tropfen von Stiefeln und Lederjacke gar nicht zu kümmern. Erst nach einigen Minuten stellte die alte Dame am Fenster fest, dass der neue Gast eine junge Frau war, die mürrisch-abweisend vor sich hinstarrte. Erna Mühlmann versuchte, sich während der nächsten Zeit auf ihre Strickarbeit zu konzentrieren, wurde aber das ungute Gefühl einfach nicht los, dass etwas passieren würde. Die angespannte Atmosphäre verschlimmerte sich durch das Schweigen der vier Reisenden allmählich. Die Stricknadeln klapperten, der nervöse Mann am Fenster schwitzte weiter, der elegante Herr konzentrierte sich krampfhaft auf seine Lektüre und die Lederjackenfrau starrte ins Nichts, bis sie plötzlich ein Päckchen Zigaretten aus der Jacke zog und sich eine Zigarette in den Mund steckte. Drei erstaunte Augenpaare richteten sich auf sie. "Schon gut, ich geh ja raus", brummte sie und verschwand im Gang. Die nächste Veränderung kam von dem beleibten Herrn, dem die Nervosität offensichtlich auf den Magen geschlagen war. "Entschuldigen Sie bitte", brachte er noch heraus, bevor er fluchtartig das Abteil verließ. Nach einigen ruhigen Minuten erhob sich der Herr neben Frau Mühlmann ebenfalls, er wolle das Zugrestaurant aufsuchen, meinte er mit einem feinen Lächeln und ging. Allein im Abteil konnte sie sich endlich wieder etwas entspannen und blickte auf die schneebedeckte Landschaft. Warum hatte sie sich durch diesen dummen Zeitungsartikel nur so irritieren lassen? Es war doch alles ganz normal. In diesem Moment ertönte ein gellender Schrei. Er musste vom Nachbarabteil gekommen sein. Die alte Dame ließ ihr Strickzeug fallen und eilte zur Tür. In Sekunden füllte sich der Gang mit Neugierigen und der Schaffner war sofort zur Stelle. Was er vorfand, ließ ihn erstarren: eine Frau lag erwürgt neben ihren durchwühlten Sachen. Der Mörder musste es wohl auf alle Wertsachen abgesehen haben. Die Menge wich entsetzt zurück, kaum einer wagte etwas zu sagen. "Bitte gehen Sie in Ihre Abteile zurück, man wird Sie dann befragen", konnte der verstörte Schaffner noch sagen. Alle gehorchten. In Erna Mühlmanns Abteil war das Schweigen durch den grauenvollen Vorfall gebrochen. "Das war bestimmt der gleiche Eisenbahnmörder" stotterte der Dicke am Fenster. "Na klar, von dem habe ich auch gelesen. Uns kann es also nicht mehr erwischen", brummte die junge Frau aus ihrer Ecke und stellte ihre Stiefel auf den Sitz gegenüber. "Man muss doch etwas unternehmen" gab der Elegante von sich, warf einen tadelnden Blick auf die Wasserlache neben sich und wirkte gar nicht mehr so distinguiert. Frau Mühlmann sah von ihm zu ihrem Gegenüber, worauf der Dicke sofort heftig zu nicken anfing. Jawohl, der Mörder muss gefunden werden! Nur die junge Frau schien das alles nicht allzu sehr zu berühren. "Bei der war doch bestimmt nicht viel Geld zu holen", meinte sie nur und machte dabei ihr Feuerzeug an und aus. "Das wird die Polizei noch feststellen, die haben heute für alles ihre Methoden", kam es vom Dicken, der schon wieder schweißbedeckt seine Hände rieb. "Aber ohne Fingerabdrücke können die auch nichts machen", stellte der Elegante fest. "Und ich habe nicht einmal ein Alibi" kam noch unbekümmert von dem Dicken, als sich auch schon die Abteiltür öffnete und der bleiche Schaffner in Begleitung eines Polizisten die vier Fahrgäste betrachtete. Noch bevor er aber seine Fragen stellen konnte, erhob sich Erna Mühlmann. "Kann ich Sie kurz sprechen?" fragte sie den verwirrten Beamten und unter vier Augen äußerte sie ihren Verdacht. Wenig später konnte die Polizei den Fall Bahnmörder abschließen - Schmuck und Geld der Ermordeten hatte der (oder die?) Verdächtige sogar noch bei sich. Nun, liebe Leser - wen hatte unsere Amateurdetektivin wohl als Mörder entlarvt? Den schwitzenden Dicken, den Eleganten, die junge Dame in Leder oder womöglich den nervösen Schaffner? Was hatte ihr zu denken gegeben?
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