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Kurzkrimis
Familienbande
Es war ein strahlendschöner Morgen und die Maisonne überflutete das ganze Atelier, so dass die Tonfiguren und Statuen in einem ganz neuen Licht erschienen: Marie betrachtete glücklich ihr kleines Reich und erwachte erst aus ihren Träumereien, als der Briefkasten klappte. Sie wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab, ging zur Tür und hob den Brief auf, der dort lag. Lange stand sie da, Marie Zoffenburg, barfuß nur in Jeans und T-Shirt, die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; und während sie auf den Umschlag starrte, fühlte sie eine Kälte in sich hochsteigen, die sie längst vergessen hatte. Diese Eiseskälte und das Gefühl von Hilflosigkeit! Die Adresse trug ihren ganzen Namen, den sie längst abgelegt hatte. Marie Sophie von Zoffenburg-Erkra. Auf der Rückseite war nur das Wachssiegel mit dem Familienwappen. So erfuhr Marie vom Tod ihres Großvaters des Grafen Zoffenburg-Erkra, dem letzten Spross derer zu Grauenstein. "Du musst mich einfach begleiten, alleine überstehe ich das nicht, bitte, Peter!" Marie umklammerte den Telefonhörer mit beiden Händen und versuchte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. Von der Wärme der Frühlingssonne konnte sie nichts mehr spüren. "Es geht wirklich nicht, mein Schatz," kam aber die bekümmerte Antwort ihres Freundes. "Dumusst alleine mit ihnen fertig werden!" Langsam legte Marie auf und blickte aus dem Fenster auf das Dächermeer. Was würden die nächsten Tage mit sich bringen? Schon wenige Stunden später saß sie im Zug, der sie mit rasender Geschwindigkeit in die Vergangenheit zurückbrachte. Die leuchtenden Felder und Blüten wurden weniger, die Berge höher und bedrohlicher - wie lange war das nun her. Genau an ihrem 18. Geburtstag hatte Marie die Koffer gepackt, um dem Schloss der Familie - und deren Zugriff - für immer zu entrinnen. Nach Jahren der Unterdrückung und des eisigen Schweigens wählte sie damals die Freiheit einer mittellosen Bildhauerin in der Großstadt - und hatte es nie bereut. Wenige Stunden später ging Marie auf das große Portal von Schloss Grauenstein zu, und mit jedem Schritt wurde ihr banger zu Mute. Als sie zögernd am Glockenschlag zog, wäre sie am liebsten davongelaufen - wo war nur ihre innere Stärke geblieben, die sie sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte? Kurze Zeit später fand sie sich im düsteren Salon wieder. Von den Wänden starrten leblos die Ahnen auf sie herab und die selben toten Augen hatten auch sie, die ihr aus den protzigen Sesseln nun entgegenblickten: alle waren da, die ganze noch lebende Verwandtschaft. Marie fühlte sich inspiziert wie ein ungezogenes Schulmädchen und so stand sie auch da, im schlichten dunkelblauen Kostüm, die Haare zu einem Zopf geflochten, eingeschüchtert durch das altbekannte Schweigen... Erst abends allein in ihrem Zimmer konnte sie klare Gedanken fassen. Die Gesichter der fünf verbliebenen Angehörigen tauchten vor ihr auf und eine ungute Ahnung beschlich sie. Da war zuerst Tante Agathe, eine von Zoffenburg-lmmending. Heute hatte sie sich erstaunlich fürsorglich gezeigt - eine ältere hager erscheinende Dame ohne jeden Anflug von Lebensfreude. In Maries Kindheit hatte dieses vertrocknete Wesen stets zu verhindern gewusst, dass das lebhafte Temperament des Kindes den greisen Grafen allzu sehr aufmunterte. Überhaupt war allen die Zuneigung des Großvaters zu seiner Enkelin ein Dorn im Auge gewesen. Auch Onkel Theobald und Cousine Evelyn - nur eine Immending - hatten allzeit darüber gewacht, dass die kleine Waise Marie nicht zu oft in die Nähe des Grafen kam. Cousin Edouard hatte heute wie früher seine zynischen Bemerkungen gemacht und ohne Unterbrechung geraucht. Wie hatten er und seine Schwester Evelyn sie damals gequält! Marie ging in ihrem Zimmer auf und ab und wünschte, sie hätte die Testamentseröffnung schon hinter sich. Aber der genaue Zeitpunkt stand noch nicht fest. Der Notar schien aufgehalten zu werden durch irgendwelche Umstände ... Sie stand am Fenster und trank nachdenklich ihre Milch. Tante Agathe hatte sie ihr netterweise gebracht. Nach einer unruhigen Nacht erwachte Marie wie zerschlagen. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zusammenfahren - war die Zugfahrt denn so anstrengend gewesen? Eine graue Hautfarbe und Ringe unter den Augen, dazu Gliederschmerzen und so ein Schwindelgefühl... Marie verbrachte den ersten Tag im Schloss vor allem sitzend und liegend und kämpfte gegen diese Sommergrippe an. Und wie fürsorglich war die Tante, brachte Tee und Brote ... war sie nicht damals so eifersüchtig gewesen auf die Zuneigung des sonst so mürrischen Grafen zu seiner Enkelin Marie? Als sechsjährige Waise war sie ins Schloss gekommen, zwölf Jahre später verließ sie es voller Wut. Und nun war sie wieder da und wurde sogar umsorgt! Am zweiten Tag ließen sich selbst Edouard und Evelyn am Krankenbett blicken. Schwach konnte Marie noch vernehmen, dass die Testamentseröffnung am vierten Tage stattfinden sollte; im Augenblick hatte der Arzt ihr aber die Teilnahme untersagt. In jener Nacht erwachte sie plötzlich von einem Geräusch aus dem Dämmerzustand. Sie erblickte einen Schatten, der durchs Zimmer huschte, ein Klirren, das sie aufschrecken ließ! Es war der schwarze Schlosskater - ihre belegten Brote oder die Milch mussten ihn angelacht haben - sollte er sie haben. Der nächste Tag sollte mit einem grauenhaften Fund beginnen: der kleine Kater lag tot vor der Tür! Marie war außer sich - sie hegte einen entsetzlichen Verdacht, den sie niemandem erzählte. Von nun an beschloss sie, sich heimlich Essen zu beschaffen und ihre Speisen nicht mehr anzurühren. Mit jeder Stunde fühlte sie sich wohler und besser, ließ sich aber die Krankheit immer noch anmerken. So nahte der vierte Tag - die Testamentseröffnung. Als sich die Mitglieder der Familie Punkt zehn Uhr im alten Herrenzimmer versammelten und um den großen Eichentisch platznahmen, fühlte sich Marie schon frischer und sie sah sich um : alle starrten angespannt vor sich hin, keiner beachtete den anderen. Was der Notar dann bekanntgab schlug wie eine Bombe ein : das Schloss, die Wälder und das Vermögen sollte einem Kinderheim zufallen - alle Millionen den Waisen! Fassungsloses Schweigen breitete sich dann aus und erst die rasende Wut in den Gesichtern machte Marie klar, in welcher Lebensgefahr sie geschwebt hätte, wäre sie die Erbin geworden. Hatte ihr Großvater ihr Leben gerettet? Noch am selben Tag kehrte sie Schloss Grauenstein für immer den Rücken. Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass Marie Zoffenburg bei der Rückkehr in ihr Atelier ein Schreiben vorfand. Es war von ihrem Großvater, wenige Tage vor seinem Tode abgefertigt; er sprach darin von seiner Einsamkeit und seiner Zuneigung. Und dass er ihr soeben 10 Millionen überwiesen hatte. Noch ein letztes Mal sind wir beide unserer Familie entwischt, dachte Marie und lächelte.
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