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  Kurzkrimis Als das Licht anging

An jenem Abend schienen ihm die Straßen ganz besonders unwirtlich und er hatte Mühe, den Pfützen auszuweichen: mit solch riesigen Löchern in den Schuhen und völlig zerrissenen Strümpfen empfiehlt es sich, einen Bogen um gewisse Gefahren zu machen. Zumal, wenn einem der Schneeregen ins Gesicht peitscht. Und es auf der ganzen Welt keinen erreichbaren warmen Ort zu geben scheint! Er stapfte weiter, eine gebückte Gestalt, das Gesicht verzerrt - für einen flüchtigen Beobachter vielleicht vor Kälte; in Wirklichkeit aber vor Wut und Hass auf seine Umwelt und sein Schicksal...

Genau zu dieser Zeit, nur ein paar Straßen weiter, bereiteten sich Mutter und Tochter aufs Weggehen vor: die Kleine hüpfte aufgeregt hin und her, wollte sich kaum den Mantel zuknöpfen lassen, und ihre blonden, glänzenden Locken passten ganz wunderbar zu dem Engel, den sie aus dem Fenster gehängt hatten. "Und wird das Christkind auch bestimmt nach dem Gottesdienst zu uns kommen?" fragte sie gerade aufgeregt. Die Mutter nickte lächelnd. Kurz danach verließen beide das Haus, Hand in Hand : eine schmale ernste Frau von 35 und ein munteres Mädchen von sieben Jahren. Zurück am Fenster ließen sie eine einzelne Kerze - damit das Christkind den Weg auch fand!

Er ging einfach immer geradeaus, immer weiter, und die munteren Stimmen vor den Häusern und auf den Straßen drangen nur von weiter Ferne zu ihm. Er sah die ganze Welt anders, als wir sie sehen, ob wir nun froh oder traurig gestimmt sind: ihm waren all die Gefühle völlig fremd; er kannte keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz, kein Wohin - und auch kein Woher! Denn dieser Mann hatte keinerlei Erinnerung daran, was seine Kindheit ausmachte. Sein Gedächtnis war ausgelöscht. Warum er diese Straße oder eine andere nahm, vermochte er nicht zu sagen. Und nun ging dieser Mann durch die Kälte, voller Abscheu gegen all das Kerzengeleuchte, und er beschloss, sich zu nehmen, was die ihm nicht geben wollten.

In der Kirche saß Marie andächtig angesichts des riesigen Weihnachtsbaums und legte den Arm um ihre Lisette. Und das kleine Mädchen blickte lächelnd zu ihrer Mutter hoch - ob dasChristkind wohl die Kerze am Fenster schon gesehen hatte? Das Kind konnte ja nicht ahnen, dass genau zu dieser Zeit ein ganz anderer Geist auf ihr Heim zusteuerte...

Dieser Geist hegte weit weniger weihnachtliche Gedanken, als es für die Stunde wohl angemessen wäre; um ehrlich zu sein, waren es absolut unweihnachtliche Gedanken! Warum er gerade dieses Häuschen auswählte, hätte er nicht erklären können. Also stand der Mann wenig später in einer dunklen, gemütlichen Wohnküche und steckte den Dietrich wieder in die Tasche. Er sah sich um, seine Augen glitzerten irgendwie gierig, und von seinen Kleidern tropfte das Wasser auf den Steinboden. Etwas in dieser Wohnung nahm ihn gefangen und er atmete den Duft von Gebäck und Liebe tief ein.

Marie versuchte sich auf die Stimmen des Kinderchors zu konzentrieren, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ganz plötzlich war diese Unruhe in ihr hochgestiegen; sie griff, wie so oft, instinktiv nach dem Ring an ihrer rechten Hand, aber heute wollte er ihr keinen Trost geben. Plötzlich stand sie auf, nahm die Hand ihrer Tochter und verließ das Gotteshaus. Marie und Lisette eilten durch die menschenleeren Straßen und Lisette bekam mit jedem Schritt mehr Angst.

Der Mann stand mit dem großen Küchenmesser in der Hand vor dem geöffneten Kühlschrank. Er packte sich ein großes Stück Schinken und den Weihnachtskuchen und grunzte zufrieden. Es gibt manchmal Dinge in diesem Leben, die wir einfach nicht erklären können. Ist es Instinkt? Oder der sechste Sinn? Übersinnliches? Als Marie die Tür öffnete, da wusste sie, dass sie leise sein sollte. Sie ließ das Licht aus und machte sich langsam auf in Richtung Küche. Lisette sollte hinter der Tür warfen. Sie hörte leise Geräusche und dazu ihren eigenen Herzschlag, laut und dröhnend. Marie stieß die Küchentür auf, machte Licht - und erstarrte. Vor ihr saß am Küchentisch ein struppiger Mensch, die Kleidung zerrissen und alt, am Boden eine Wasserlache, und auf dem Tisch das Messer, Brot und Schinken.

Er hob den Kopf. Sie machte einen Schritt auf ihn zu. "Bist du endlich wieder heimgekommen?", flüsterte sie, und da endlich, als er das Leuchten in ihren Augen sah, da plötzlich konnte er sich wieder erinnern! Wie er nach dem Unfall aufgewacht war und einfach weggegangen aus dem Krankenhaus, ohne etwas zu wissen oder zu verstehen, und immer nur weiter gelaufen war und sich genommen hatte, was er brauchte, all die Jahre lang... An der Tür aber lehnte die kleine Lisette, die auch allmählich zu lächeln begann, während sich draußen die Straßen weiß färbten.